Symptoms of Grief

Die weitere Recherche zum Kübler-Roll-Modell führte mich zu einer Auflistung von Symptomen, in denen sich Trauer bzw. eine Promotion äußern kann. Christina Gregory (2020) beschreibt in ihren Ausführungen zum Modell verschiedene Symptome, in denen sich Trauer äußeren kann. Dabei erwähnt sie, dass sich diese Symptome nicht nur psychisch, sondern auch physisch, sozial und spirituell äußern. Hier sind meine:

Schuldgefühle

Die meiste Zeit der fast sieben Jahre meiner Promotion habe ich mich schuldig geführt. Weil ich kein Abstract für dieundide Tagung eingereicht habe. Weil andere Abstracts für dieunddie Tagung eingereicht haben, ich aber nicht. Weil ich die ganze Woche/den ganzen Monat/seit Monaten nichts an der Diss gemacht habe. Weil ich was für die Diss gemacht habe, aber hätte noch mehr machen können. Weil ich meinem selbstgebauten Zeitplan einige Monate/Jahre hinterherhänge und immer noch nicht fertig promoviert bin. Das Schuldgefühl nimmt mit der Zeit zu, der Gedanke „Ich sollte jetzt eigentlich an der Diss arbeiten“ schleicht sich allmählich in immer mehr Stellen meines Lebens.

Da der Vertrag über meine Lohnarbeit keine Zeitanteile für die Arbeit an meinem Promotionsprojekt enthält, muss ich in meiner Freizeit promovieren. Ich denke, für Personen, die weder Freunde noch Hobbies haben, müsste das ganz gut machbar sein. Hat man allerdings zumindest eins von beidem, geschweige auch noch Kinder und/oder Beziehungen, wird es tricky. Mich haben meine Freunde, meine Hobbies und mein Liebster zu jeder Zeit mindestens genauso sehr interessiert wie mein Promotionsprojekt, meistens mehr. Am Ende war es dann eines der Hobbies das als erstes zurückstecken musste.

Sorge, Angst und innere Unruhe

… werden stärker, je länger ich an der Diss arbeite und je näher gleichzeitig der Punkt kommt, an dem ich unpromoviert nicht mehr an der Uni angestellt sein darf.

Gleichzeitig steigt mit jeder geschriebenen Seite die Sorge, dass das Fabrizierte nicht den Ansprüchen der Wissenschaft (repräsentiert durch die Gutachter*innen und irgendwelches Fachpublikum auf Tagungen bzw. irgendwelche Reviewer) genügt. Was, wenn Alles, was ich seit drei Jahren fabriziere, an den Haaren herbeigezogener Blödsinn ist? Was, wenn auffliegt, dass ich gar kein Wissenschaftler bin, sondern nur ein dahergelaufener Idiot?

Stress, der sich körperlich auswirkt

Anfang 2018 habe ich plötzlich Zahnschmerzen. Ich habe sonst nie Zahnschmerzen. Ich bin peinlichst um die Gesundheit meines Gebisses bemüht, der halbjährliche Check beim Zahnarzt ist der einige Gesundheitscheck, den ich ernst und wahrnehme. Der Zahnarzt seufzt und sagt, dass komme daher, dass ich im Schlaf so stark die Kiefer aufeinanderpresse. „Stress.“, sagt er und dass das ganz viele Leute hätten, weil heutzutage alle permanent gestresst seien. „Beißschiene.“, sagt er und macht einen Abdruck. Ich schäme mich, weil ich jetzt auch eine von diesen permanent gestressten Leuten bin, die sich zu viel aufhalsen und das an ihrem Körper auslassen. Als ich Menschen davon erzähle, stellt sich heraus, dass tatsächlich fast jede*r zweite eine Beißschiene hat. Knirschende und mahlende Kiefer überall! Es gruselt mich. Ich trage das Ding genau einmal, danach fahre ich weit weg, wo ich ungestört an der Diss arbeite und die Zahnschmerzen hören auf. Als Mahnmal liegt die Beißschiene bis heute in meinem Nachttisch.

Weinen

Ich weine eh sehr leicht und viel und wegen meiner Promotion erst recht. Ich heule, weil mein Thema niemanden interessiert und die Gesellschaft nicht verändern wird. Ich heule, weil ich mich von meiner Zweitgutachterin und irgendwelchen Menschen im Doktorandenkolloquium missverstanden fühle. Die Abstände zwischen dem Weinen werden kürzer und kürzer. Im Januar 2019 sagt mein Liebster: „Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich sage ´Diss` und du fängst an zu weinen. Ich weiß aber nicht, wieso und ich weiß auch nicht, wie ich dir helfen kann.“ Dass der Liebste genervt von meinem Weinen ist, bringt mich noch mehr zum Weinen.

Frustration, Feelings of Detachment, Isolation from Friends and Family

Wie oft ich mit dem Liebsten gestritten habe, weil er m.E. meine Situation nicht gesehen und ernst genommen hätte. „Alter, ich schreibe gerade eine Promotion!?!“ Und er so: „Ja, und was heißt das nun?“ Wieder Weinen.

Selbst die Menschen, die selber mal promoviert haben, können dich nicht verstehen, denn sie sind ja nicht du und außerdem ist es bei ihnen lange her und sie haben – wie bei Geburten – gnädiger Weise längst vergessen, wie schlimm das damals war.

Erschöpfung

Im Frühling 2019 passiert es immer häufiger, dass ich den Blick auf den Computerbildschirm nicht mehr scharf stellen kann. Die Zeilen im Textdokument verschwimmen, bis ich sie nicht mehr lesen kann. Ich gucke dann aus dem Fenster, auf das Telekom-Gebäude bis zum Kesselbrink, auf die Uni-Dohlen auf dem Dach der Bibliothek und auf den Typen, der am späten Nachmittag immer auf der obersten Etage von Parkhaus 1 mit seinem Golf Doughnuts übt.

Schlafstörungen

Im Sommer 2019 höre ich auf zu träumen. Die Nächte werden zu dunkelgrauen Blöcken völliger kognitiver Leere.

Questioning the Purpose of Life und your Spiritual Beliefs (e.g., your belief in God)

Da ich kein religiöser Mensch bin, war das Infragestellen Gottes für mich das kleinere Problem. Ich begann allerdings irgendwann meine Ideale anzuzweifeln. Beziehungsweise kam ich mehrmals an den Punkt, an dem mir klar war, dass sich auch durch vermeintlich bahnbrechende Ergebnisse meiner Forschung gesellschaftlich nichts verändern würde (siehe auch Weinen).

Wut

Und während dessen denkt man, dass man kein Recht dazu hat, so verzweifelt zu sein, so müde und so deprimiert. Weil das vor einem ja schon eine Millionen Anderer gemacht und geschafft haben und es gerade Millionen Anderer auch machen. Wie schlimm kann sowas also schon seid?! Stell dich nicht so an!